Viele tolle Frauen mit HIV führen ein Doppelleben

Kinderzeichnungen, Spielzeug, ein kleiner Wackeldackel, eine Ente auf dem Bildschirm, Kunst, Talmi, Tand und Flitterkram erinnern eher an eine Kindertagesstätte als an ein Arztzimmer. Die Frauen mit HIV und ihre Kinder, die Dr. Annette Haberl, Ärztin im HIVCENTER der Frankfurter Universitätsklinik, hier berät und betreut, sollen sich wohlfühlen. Die vielen kleinen Geschenke, Bilder und Ansichtskarten zeigen, dass es ihr gelingt, die Herzen zu erobern.

Die medizinische Betreuung ist nach all den Fortschritten in der Behandlung nicht mehr das Hauptproblem, auch wenn es immer noch erheblichen Nachholbedarf an frauen- und kinderspezifischer Therapieforschung gibt. Dafür setzt sich die Ärztin als Vorstandsmitglied der Deutschen AIDS-Gesellschaft und im Nationalen AIDS-Beirat beim Bundesgesundheitsministerium ein. Hier in ihrem Behandlungsraum interessieren die Einzelschicksale. In ihnen entdeckt sie Gemeinsamkeiten, die Konsequenzen im gesellschaftlichen Umgang mit HIV erfordern. Bernd Aretz sprach mit Dr. Annette Haberl über die Situation HIV-infizierter Frauen und den Einfluss spektakulärer Strafverfahren auf die Seele.

Sind die Therapie-Erfolge bei Ihren Patientinnen angekommen?

Ja, so können zum Beispiel Schwangere mit HIV heute dank wirksamer Therapien auch auf natürlichem Weg entbinden. Obwohl bei einer Geburt Blut fließt, liegt das Risiko einer HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind bei unter einem Prozent, wenn die Frau in der Schwangerschaft gut behandelt wurde. Mit diesem Wissen  entscheiden sich bei uns heute immer mehr HIV-positive Schwangere für die natürliche Geburt.

Ist es inzwischen auch möglich, dass Mütter ihre Kinder stillen?

Das muss man differenziert betrachten. Studien in Afrika haben gezeigt, dass Mütter, die stillen und gleichzeitig eine HIV-Therapie machen, das Virus kaum auf ihre Kinder übertragen. Allerdings gehen viele Medikamente in die Muttermilch über, und wir wissen noch nicht, ob das langfristig Auswirkungen auf die Kinder hat. Deshalb empfehlen wir bei uns Flaschennahrung und raten den Müttern zum Stillverzicht. In anderen Teilen der Welt, vor allem in Afrika, steht Säuglingsnahrung gar nicht ausreichend zur Verfügung, folglich gibt es auch keine Alternative zum Stillen. Dort ist es sinnvoll, die stillenden Mütter zu behandeln, damit HIV nicht übertragen wird.

Die Therapie verhindert eine HIV-Übertragung. Entlastet solches Wissen die Frauen?

Bei vielen gibt es immer noch die Angst, ihre Partner anstecken zu können. Auch wenn das unter einer funktionierenden Therapie  praktisch ausgeschlossen ist, ist die Furcht in den Gesprächen immer wieder Thema. Ich höre oft von Frauen, dass sie es nicht aushalten könnten, ihren Partner zu infizieren. Obwohl die HIV-Infektion inzwischen eine gut behandelbare chronische Krankheit ist, mit der man ein normales Leben einschließlich der Sexualität leben kann, haben viele Frauen das Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein. Dass sie unter der Therapie nicht mehr infektiös sind, können sie nur schwer annehmen, weil sie auch sonst keine Leichtigkeit im Umgang mit HIV erfahren. Es klebt an ihnen, so lange in der Gesellschaft noch die Bilder von Liederlichkeit, Gefahr und Siechtum vorhanden sind. Es wird einfach nicht gesehen, dass sich auch Menschen mit einer ganz gewöhnlichen sexuellen Biografie infizieren können. Da gibt es immer die Assoziation mit Drogengebrauch oder einem ausschweifenden  Sexualleben.

Das zu beurteilen steht zwar niemandem zu, aber es erschwert das Gespräch über HIV.

Für die meisten Frauen geht das, wenn überhaupt, nur im engsten Kreis. Die Nachbarin oder die Kaffeerunde mit den Freundinnen ist da schon außen vor. Vielen ist es nur alle drei Monate bei ihrem Termin hier in der Ambulanz möglich, offen zu sprechen. Außerhalb dieses geschützten Rahmens müssen sie immer bedenken, welche Folgen Offenheit für sie, aber vor allem auch für ihre Kinder haben könnte. Dieses Doppelleben erschwert es natürlich, die Bedeutung von HIV für das eigene Leben zu relativieren. Und dann kommen immer wieder Ängste hoch, auch unter der Therapie sei nicht alles sicher. Da fühlen sich manche Frauen dann auch von ihren Partnern, die eine andere Einschätzung haben oder sich vielleicht gar keine Gedanken über Risiken machen, unter Druck gesetzt, wenn diese unbedingt auf das Kondom verzichten wollen. Damit müssen die Frauen dann auch allein die Verantwortung für die Verhütung übernehmen.

Spielt die Angst eine Rolle, der Partner könnte einen anzeigen? Oder gibt es bei den Frauen selbst das Bedürfnis, mit dem Mittel des Strafrechts die eigene Infektion zu bearbeiten?

Das spielt im Klinikalltag kaum eine Rolle. Das sind Einzelfälle. Ich habe einmal eine Frau begleitet, die in ein Strafverfahren hineingezogen wurde, das dann bekannt wurde. Die Grundstimmung bei meinen Patientinnen war Mitgefühl für die Angeklagte. Und es gab Verständnis dafür, dass sie ihre Infektion nicht offengelegt hatte. Ich bin der Meinung, dass das Strafrecht nur im Fall sexueller Gewalt und absichtlicher Ansteckung angewendet werden sollte. Alles andere sollte auf der Beziehungsebene gelöst werden. Diejenigen, die den Einsatz des Strafrechts begrüßen, haben vielleicht auch falsche Vorstellungen vom Verhalten der mit HIV lebenden Menschen. Da wird von Rücksichtslosigkeit ausgegangen, was sich in der Beratung immer wieder als Hilflosigkeit herausstellt.

„Das Frauenhaus ist häufiger mal
die Adresse meiner Patientinnen“

Der Druck, dem Frauen mit HIV ausgesetzt sind, kann immens sein. Ich habe mir früher nicht vorstellen können, wie oft sie in Beziehungen Gewalt erfahren. Das Frauenhaus ist häufiger mal die Adresse meiner Patientinnen. Unglaublich auch, welchen Druck Männer ausüben, um ohne Kondom verkehren zu können. Das geht bis hin zu sexueller Nötigung. Und das kann bei einer Trennung auf einmal Thema werden. Bei einer Haltung, wonach im Krieg und in der Liebe alle Mittel erlaubt seien, haben Männer die HIV-Infektion und die Drohung mit einem Zwangsouting schon als Druckmittel benutzt, um sich Vorteile bei der Trennung zu verschaffen. Da kann es zum Beispiel um das Sorgerecht für die Kinder gehen. Ich erlebe immer wieder verängstigte Frauen, die in einer solchen Krisensituation auch keinen Rückhalt im Freundeskreis finden können, weil die Infektion als Familiengeheimnis behandelt wird und sie Zurückweisung statt Unterstützung fürchten, wenn sie über HIV sprechen würden.

Das deckt sich mit internationalen Studien, wonach infizierte Frauen deutlich häufiger Opfer von – auch sexueller – Gewalt außerhalb und innerhalb von Beziehungen sind. Inzwischen gibt es ähnliche Berichte aus schwulen Beziehungen. Das legt die Vermutung nahe, dass sich HIV-Positive in einer deutlich schwächeren Position befinden oder fühlen.

Ihre Ängste haben ja einen realen Grund. Und die Gewalt ist nicht immer nur körperlich. Eine meiner Patientinnen musste mit ihren Kindern aus ihrem Dorf wegziehen, weil ihr Expartner derart Stimmung gegen sie gemacht hatte, dass es – auch der Kinder wegen – nicht mehr auszuhalten war. Hinzu kamen, wie in vielen anderen Fällen, finanzielle Probleme, die für die Frau kaum zu bewerkstelligen waren.

Im Zusammenhang mit einem öffentlich diskutierten Fall haben viele meiner Patientinnen ihre sexuelle Vergangenheit Revue passieren lassen und überlegt, ob sie vielleicht von ihr eingeholt werden könnten. Einige meinten, manchmal wäre es besser, wenn man keinen HIV-Test gemacht hätte, denn dann wäre man vor der Justiz sicher. Dieser Rückschluss wäre natürlich fatal. Um HIV als gesundheitliches Problem sinnvoll angehen zu können, ist ein frühes Wissen um die Infektion und eine rechtzeitige Behandlung notwendig. Durch Nichtwissen wird der Zeitpunkt viel zu oft verpasst. Angst vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen erschwert den offenen Umgang mit HIV.

Tatsächlich hat es in Deutschland bisher relativ wenige Strafverfahren wegen HIV gegeben. Es gibt ein grobes Missverhältnis zwischen Berichterstattung und tatsächlicher Strafverfolgung.

Aber auch die wenigen Verfahren erschweren deutlich erkennbar einen gelasseneren gesellschaftlichen Umgang mit HIV. Das übliche Doppelleben, in dem nur der Partner und meist noch nicht einmal die Eltern und die Kinder informiert sind, verstärkt das Gefühl, unabhängig vom Gesundheitszustand krank und minderwertig zu sein. Daran ändern auch die Therapien nichts. Das macht mich wütend. Das sind doch tolle, starke und schöne Frauen, die aber mit ihrem Schicksal völlig alleine dastehen. Der Weg zur nächsten Aidshilfe steht ihnen meist nicht wirklich offen. Die Hemmschwelle ist einfach zu groß.

„Es war so schön, mitzuerleben, wie entlastend es ist,
nicht mehr mit HIV alleine zu sein“

Wir versuchen inzwischen, hier in der Klinik Angebote zu machen, damit die Frauen sich kennenlernen. Wir hatten ein wunderbares Fotoprojekt, bei dem sich Frauen mit HIV endlich einmal so zeigen konnten, wie sie sind, und das dann auch noch öffentlich im Rahmen einer Ausstellung getan haben. Es sind Fotos von schönen Frauen entstanden. Seit einigen Monaten gibt es auch eine Frauengruppe, die sich regelmäßig bei uns trifft. Unsere Ambulanz wird als geschützter Raum wahrgenommen. Gerade waren wir ein Wochenende mit 17 Frauen und sechs Kindern unterwegs. Es war so schön, mitzuerleben, was für eine tolle Stimmung bei den gemeinsamen Unternehmungen entsteht, wie entlastend es ist, nicht mehr mit HIV alleine zu sein. Und dann gehen die Frauen wieder zurück in ihre verschwiegenen Parallelwelten. Das ist doch furchtbar anstrengend. Da ändert leider keine noch so gute Therapie etwas dran.

Neben der persönlichen Entwicklung wird auch ein gesellschaftliches Umfeld gebraucht, das Veränderungen nicht nur zulässt, sondern fördert.

Ja, und deswegen ist es dringend erforderlich, mit den alten Bildern aufzuräumen. Im Großen und Ganzen ist HIV heute eine gut behandelbare Krankheit. Statt Nebenwirkungen zu dramatisieren, die natürlich auftreten können, statt die eher theoretischen Restrisiken herauszustellen, sollten wir endlich die Erfolge der Therapie betonen und deutlich kommunizieren.

Es darf weder am Arbeitsplatz noch in der Gesellschaft zu Nachteilen führen, wenn jemand mitteilt, HIV-positiv zu sein. Ob die Einzelnen das dann tun, ist wie bei jeder anderen Krankheit auch eine persönliche Entscheidung. Um diese Möglichkeit zu eröffnen, brauchen wir viele öffentliche Vorbilder, damit endlich mehr Normalität mit HIV möglich wird.

Siehe auch den Beitrag „Die Frauen sind hoch motiviert, sich einzubringen“ : Annette Haberl im Gespräch mit Sophie Neuberg über frauenspezifische Aspekte der HIV-Forschung (blog.aidshilfe.de, 19.12.2011)